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Selbstorganisation: Ursprung und Entwicklung einer neuen Arbeitskultur

13.04.2024
Natürliche Ordnung

Verschiedene archäologische Funde und anthropologische Studien stützen die Theorie, dass bereits die Urmenschen in Stammesverbänden von 50 bis 150 Personen in selbstorganisierten Gemeinschaften gelebt haben.

In diesen prähistorischen Gruppen gab es keinen Führer nach heutigem Verständnis. Stattdessen übernahmen Mitglieder, die in bestimmten Bereichen besonders geschickt oder erfahren waren, temporär die Führung, je nach den Anforderungen der Situation. Diese informelle Führungsstruktur basierte auf den individuellen Fähigkeiten und Kenntnissen der Gruppenmitglieder.

Erst mit dem Übergang von nomadischen Lebensweisen zu sesshaften Gemeinschaften vor etwa 10.000 Jahren begannen sich grundlegende Formen von formalen Führungsstrukturen zu entwickeln. Dies markiert den Beginn einer allmählichen Verschiebung hin zu stärker organisierten, hierarchischen Gesellschaften.

Es liegen also einige Jahrhunderte zwischen den Ursprüngen selbstorganisierter Gemeinschaften und aktuellen Entwicklungen in Unternehmen, in denen Selbstorganisation eine immer größere Rolle spielt.

Die Entwicklung

Seit dem Aufkommen des kybernetischen Denkens in den 1940er Jahren, hat sich Selbstorganisation in zahlreichen Disziplinen als grundlegendes Ordnungsprinzip etabliert. Heute spielt das Konzept Selbstorganisation in verschiedenen theoretischen Modellen eine wichtige Rolle, insbesondere in der Systemtheorie, im Radikalen Konstruktivismus und in der Chaostheorie.

Die ersten großen Veränderungen, die in Organisationen neue Anforderungen an Führung mit sich bringen, entstehen in den 1990er Jahren durch globalisierende Märkte. Die Suche nach Möglichkeiten der Flexibilisierung von Prozessen und Erhöhung der Innovationskraft, um die Anpassungsfähigkeit der Unternehmen zu steigern, regen die Auseinandersetzung mit neuen Konzepten an. Entscheidungs- und Gestaltungskompetenzen werden verstärkt auf die Teams verlagert und es wird auf Matrixorganisationen und Projektstruktur gesetzt. Themen wie mobile Arbeitsplätze, virtuelle Teamarbeit und Arbeitszeitkonten, bei freier und selbstverantwortlicher Zeiteinteilung, gewinnen an Bedeutung.

Evolutionäre (lernende) Organisationen

Selbstorganisation wurde als Management-Prinzip besonders durch den Bestseller „Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux (2015) bekannt. Laloux untersuchte eine Vielzahl an zukunftsweisenden evolutionären Organisationen und arbeitete diejenigen Praktiken heraus, die er als besonders erfolgreich identifizierte.

Laloux versteht Organisationen nach seiner Evolutionstheorie als lebendige, sich ständig weiterentwickelnde Systeme und nicht, wie im modernen leistungsorientierten Denken, als Maschinen. Er sieht in Organisationen einen selbstorganisierten Drang, der jeder Zelle innewohnt. Demnach braucht es keine zentrale Autorität, die Entscheidungen trifft. Der Daseinszweck der Organisation steht bei allen Entscheidungen für alle Beteiligten im Vordergrund.

Er unterscheidet Organisationen dabei nach ihrem Entwicklungsstand und ordnet den einzelnen Entwicklungsstufen verschiedene Farben zu. Die integral-evolutionäre Teal-Organisation ist der Endpunkt der Entwicklung mit den drei Eigenschaften:

  • Selbstorganisation: Beratung statt Führung, Vertrauen vs. Kontrolle, Empowerment
  • Ganzheitlichkeit: Eine (psychologisch) sichere Arbeitsumgebung, Umgang mit Konflikten, Förderung der inneren Ganzheit
  • Evolutionärer Sinn: Wenn eine Organisation für den Sinn lebt, dem sich alle verbunden fühlen, gibt es keine Konkurrenz.

In Teal-Organisationen liegt die Führung innerhalb der selbstverwaltenden Teams. Machthierarchien werden durch natürliche, hauptsächlich kompetenzorientierte Strukturen ersetzt. Voraussetzungen sind intrinsische Motivation und bereichsübergreifende Kooperation. Hierarchie, Titel und Konkurrenzdenken verlieren laut Laloux an Bedeutung, da sie nicht mehr zur Absicherung der Karriere und der Machtposition ausschlaggebend sind. An ihre Stelle tritt eine Kultur des Vertrauens, die auf der Überzeugung basiert, dass alle Menschen in der Organisation stets das Richtige tun möchten. Die Strategie entstehe nach Laloux auf organische Weise, quasi durch die kollektive Intelligenz der Mitarbeitenden.

Die Grenzen von Selbstorganisation

Ein Aspekt, der bei Überlegungen zu selbstorganisierten Teams beachtet werden muss ist jener, dass nicht jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin ambitioniert ist, die erforderliche Verantwortung zu übernehmen. Und auch die andere Seite, die Abgabe von Macht im Management, kann zu einer Quelle von Widerstand werden.

Wenn man einen Blick auf die Forschung zur Gruppendynamik wirft, könnte augenscheinlich ein natürlicher Widerspruch zu selbstorganisierten Konzepten entstehen. Demnach entstehen in der Zusammenarbeit im Team bereits nach kurzer Zeit informelle Hierarchiestrukturen und Rollen, in die sich die Mitglieder ordnen.

Ein weiteres Hindernis kann darin liegen, dass Menschen grundsätzlich ein mehr oder weniger ausgeprägter Wunsch nach Ordnung und Stabilität innewohnt, der in diesen Konzepten zu kurz kommen kann.

Praxis

Das propagierte hierarchiefreie Unternehmen klingt auf den ersten Blick für viele utopisch, wird aber etwa bei Microsoft bereits seit einigen Jahren umgesetzt. In der Schweiz hat sich der CEO von Novartis diesen radikalen Wandel auf die Fahne geschrieben und folgt dem „Unboss“-Ansatz. Der schwedische Streamingdienst Spotify wurde mit dem selbstorganisierten „Spotify-Modell“ Marktführer.

Fazit

Selbstorganisation kann als Kulturtechnik betrachtet werden, die erst erlernt werden muss. Nach Jahrhunderten einer Sozialisation in hierarchischen und marktorientierten Strukturen ist die Gesellschaft an diese Form des sozialen Aushandelns nicht gewöhnt.

Auch Selbstorganisation kommt nicht gänzlich ohne Führung aus: selbstorganisierte Gruppen brauchen Unterstützung bei der Bewältigung von Herausforderungen in ihrer Teamdynamik, um bestehende Interessenskonflikte zu erkennen und anzusprechen. Unbewusste Normen müssen bewusst gemacht und kritisch hinterfragt werden.

Und es gilt auch zu respektieren, wenn eher risikoscheue Menschen sich mit dem Maß an Autonomie überfordert fühlen.

Die aktuellen Tendenzen in Richtung “mehr Selbstorganisation” als vorübergehende Modeerscheinung abzutun, wäre zu kurz gedacht. Vielleicht muss sich allerdings im ersten Schritt nur die Definition von Führung ändern. In einer zukünftigen Arbeitswelt, die auf kollaborative Umgebungen mit autonomen Teams basiert, sind Führungskräfte gefordert, ihre Mitarbeiter zu befähigen und zu unterstützen. Dominanz und Kontrolle wirken dabei eher kontraproduktiv. Die neuen Aufgaben der Führung umfassen Perspektivenwechsel, Beratung, Moderation und die Rolle eines Sparringspartners, ohne dabei auf Druck und Anweisungen zu setzen.

Vonseiten der Organisation kann also unheimlich viel getan werden, um gelingende Selbstorganisation zu fördern. Wenn Sie Interesse daran haben nachzulesen, wie diese Förderung ganz konkret aussehen kann, verweisen wir auf den Leitfaden Selbstorganisation, der in Kürze von dem Fachbereich Organisationsentwicklung und Change Management des Bundesverbands deutscher Unternehmensberatungen e.V. veröffentlicht wird.

Oder Sie gehen direkt mit uns in den Diskurs zum Thema Selbstmanagement bei unserem Change Day 2024. Für Informationen hierzu, senden Sie uns doch bitte eine E-Mail.

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